Violeta

Painting ©reated by Humberto de Jesús Viñas García

Wenn man Violeta heißt, kann man eigentlich nur Sängerin werden, oder? Sehen sie, das habe ich auch gedacht, bis ich eine Violeta kennenlernte.
Sie war nicht dunkelhaarig, ich erwähne es deswegen, weil eine echte Violeta, ich meine natürlich so eine, wie ich sie mir vorgestellt hatte, zumindest dunkle Haare haben würde. Aber nun. Die Violeta, die ich kennenlernte, war rotblond.
Ungescheitelt drehte sich ihr Kürbisblondhaar in flusigen Wirbeln von der Stirne bis in den Nacken. Ja, und an Violetas Augen erinnere ich mich, weil ich meinen ersten Füllfederhalter, ein Pelikan, vor jedem neuen Auftanken unter fließendem Wasser gereinigt habe. Und die allerletzte Spülung, also die, bevor dann das Wasser ganz klar wurde, hatte die Farbe von Violetas Augen. Ein wasserwasserhelles Königsblau. Das war die Tinte, die ich immer verwendet habe. Nein, immer stimmt nicht.
Später habe ich mit grüner Tinte geschrieben, dann mit schwarzer und dann wollte ich nur noch türkisfarbene. Genau. So war das. Jetzt, wo ich darüber rede, fällt mir alles wieder ein. Richtig, ich wollte ihnen ja von Violeta erzählen.
Also ich kaufe in einem Großmarkt ein. Jeden Donnerstag. Und ich nehme mir Zeit, denn ich schaue mir gerne Verpackungen an, Flaschenformen und so weiter. Ich nehme auch vieles in die Hand, lese, schüttle was sich schütteln lässt und stelle es wieder ins Regal. Ich komme, letzte Woche war es, auf meiner Expedition durch den Großmarkt in die Spirituosenabteilung. Tolle Sachen gibt es ja inzwischen. Aber was ich sagen wollte, ich stehe da und sehe plötzlich eine Flasche Original Danziger Goldwasser. Sie kennen es? Schmeckt nicht atemberaubend, aber die hauchdünne Goldspäne darin sinkt so theatralisch zu Boden, natürlich nur, wenn man ordentlich daran geschüttelt hat, dass ich es unbedingt tun musste. Und sie werden es glauben oder nicht. Aber als ich in dieses flimmernde Gold schaute, habe ich Violetas Haut gesehen.
Stellen sie sich vor. Ein hohes, altes Fenster.
Beide Flügel sind geöffnet. Dahinter die Kronen sommerblättriger Bäume. Helle Nachmittagssonne scheint auf die Fensterbank.
Violeta sitzt vor dem Fenster. Ihr Arm ruht in der Sonne. Ich stehe hinter ihr und kämme ihre feuchten Haare. Sie ist gerade aus dem Bad gekommen. Plötzlich bricht sich das Licht der Sonne in den kleinen Wassertropfen auf ihrer Haut und goldene Glitzer übersäen ihren Arm. Ein wunderschönes Bild. Daran habe ich mich erinnert. Letzten Donnerstag. Klingt albern, was?
Sie möchten wissen, wo ich damals war? Ich meine, wo Violeta und ich waren? Ich will es ihnen erzählen.
Eigentlich habe ich Violeta nur kennengelernt, weil ein Flugzeug abgestürzt ist und ich nicht auf der Maschine war. Und ich war nicht auf der Maschine, weil ich als Zeugin in einem Prozess aussagen musste. Ja, und dann kannte ich noch Michael. Eine Liebe aus der Studienzeit. Und der gab mir den Tip mit der Klinik.
Da habe ich Violeta kennengelernt.
Als ich sie das erste Mal sah, nein, zuerst sah sie nicht, stimmt nicht. Ich merkte, wie jemand ganz energisch an meinem Kittel zog.
Ich drehte mich um und da stand Violeta. Nein, sie stand nicht aufrecht. Das konnte sie nicht. Sie war vierzehn, damals. Mit krummem Rücken schlurfte sie auf dünnen Beinen vom Bett zum Stuhl, vom Stuhl zum Bett. Wie viele Jahre ihrer Kindheit sie in einem dunklen Zimmer im Bett angeschnallt verbracht hatte, weiß ich nicht mehr. Wir haben nie darüber gesprochen. Sie konnte nur Luft ausstoßen. Eine kurze Sequenz, ungefähr so, he-he-he, hieß, ich will etwas trinken. War ihr das Getränk nicht recht, Milch, Saft, Tee oder Wasser, folgte so lange ein hee-hee, bis sie bekam, was sie wollte. Manchmal weinte sie. Rauh und trocken.
Auf der Station war sie die Jüngste. Die alten Frauen nahmen kaum Notiz von ihr. Jede von ihnen lebte in einer anderen Welt.
Aber ich weiß noch etwas von Violeta zu erzählen. Und das hat mit Musik zu tun. Auch wenn sie keine Sängerin war und nicht dunkelhaarig und sich nicht in einem biegsamen Körper bewegte, so glaube ich doch, dass sie ein besonderes Empfinden für Musik hatte.
An sonnigen Tagen durften die Frauen sich für einige Stunden im Park aufhalten.
Besser gesagt in einem kleineren Garten, der ringsum mannshoch mit Maschendraht eingezäunt war. Hier und da stand eine Bank in dem hügeligen Gelände. Aber nur von einer Bank aus hatte man Einblick in einen tiefer gelegenen Garten, in dem sich die Männer rauchend und Karten spielend die Zeit vertrieben. Außerdem gab es dort ein höher gelegenes Rondell mit einer Steinbank, das man über einen Weg und einige Stufen erreichte.
Und diesen Weg ging ein Mann. Aber ging nicht einfach so. Er schritt daher, als ob er gleich eine Bühne betreten würde. Ich hatte mich gerade zu Violeta gesetzt.
Und jetzt schauten wir beide dem alten Mann zu.
Er kam auf dem Rondell an, stellte sich rechts neben die Steinbank, verbeugte sich gemessen, machte eine Vierteldrehung nach links, nahm Platz und hielt dabei mit seinem rechten Arm die Schöße seines Fracks hoch, schob dann seine Manschetten, erst links dann rechts, ein bisschen höher, streckte sich im Rücken, winkelte die Arme und atmete tief ein. Seine Hände lagen jetzt auf den Tasten und schlugen die ersten Akkorde an. Wütend rasten sie auseinander, gegen einander, übereinander.
Der Pianist hatte die Augen längst geschlossen. Er spielte wie ein Besessener. Er schmeichelte, lockte, forderte, versprach, verweigerte, griff an und gab sich hin. Die Kadenzen sprudelten und hüpften und Violeta bewegte ihren verkrümmten Rücken im Rhythmus der Musik.
Als die Schlussakkorde verklungen waren, stand der Pianist auf, wischte sich die Stirne mit einem großen, weißen Tuch, verbeugte sich zur Mitte, einmal nach rechts und einmal nach links, wischte sich erneut die Stirn und schritt die Stufen hinab.
Violeta war längst aufgesprungen und wollte ihm entgegen laufen.
Eilig schlurfte sie über den Kies. Aber sie kam nicht weiter als bis zum Zaun.

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