Texte aus dem Bilderbuch

Briefe und Erzählungen

von        ab 1999

 

Painting ©reated by Marie-Denise Douyon


Briefe an Frau D.

Painting ©reated by Humberto de Jesús Viñas García

Santiago de Chile, den....


Liebe Frau ... ,


zu Ihrer Berufung und neuen Aufgabe als Leiterin meiner alten Schule will ich Ihnen von Herzen Glück wünschen.

Sollte die Entscheidung, einer Frau die Führung und Lenkung der Geschicke im …. zu übertragen, von den verantwortlichen Gremien nicht aufgrund von Klugheit sondern eher unter der Ägidie des Zeitdrucks gefällt worden sein, verberge ich keinesfalls meine Freude und Erleichterung darüber, dass nach langen Jahren männlich geprägter Welt und Sichtigkeit nun auch das ... ein Ort ist, für dessen bunt gefächerte und Generationen übergreifende Gemeinschaft weibliche Töne anklingen.

Neugierig wie ich bin, komme ich gerne zum diesjährigen Altschülertreffen.
Ein ehemaliger Mitschüler und langjähriger Freund hat seine Eindrücke vom letzten Jahr in einem Brief festgehalten, der mich heute erreicht hat.

Mit seinem Einverständnis lege ich diesen Brief bei und es wäre in unser Beider Sinne, wenn Sie ihn dem Kollegium vorlesen möchten.

Auf Ihre Antwort freuen wir uns.
Ihr
Otto von t´Huus
(Schüler von 1934 bis 1941)





Kolumbien, im Oktober ….

Lieber Otto,

seit einer Woche in Kolumbien zurück hatte ich Zeit, meine Eindrücke aus Europa und besonders dem … unter dem hiesigem Licht zu reflektieren.
Ich schreibe Dir, weil ich bewegt und auch in Sorge bin.

Wo sind die alten Zeiten hin? Wo sind sie hingekommen?
Noch heute spüre ich die Inbrunst , mit der wir uns in die Gemeinschaft einfügten. Wir haben alles gegeben, um ans Ziel zu kommen.

Anfangs fiel es mir schwer, mich am … zurecht zu finden.
Erinnerst Du Dich daran, wie beschämt ich war, als Du mich weinend am Hexentanzplatz antrafst?
Gott sei Dank nahm mich der unerschütterliche „Xerxes“ damals unter seine Fittiche.
Welch ein Pädagoge! Welch ein Vorbild! Unnachgiebig hat der seine Rabauken gebändigt und gezähmt. Ich hatte verdammten Respekt vor ihm und wusste, wenn ich auf ihn hörte, war ich praktisch unverwundbar.
Hätte man uns nicht zur rechten Zeit die Flügel gestutzt, welche Früchte hätten wir getragen? Was wäre aus uns und der Welt geworden? Hat man uns nicht alle auf ein Gleis gesetzt, damit wir das Ziel erreichen?

Als ich ins ... kam, war ich schockiert. So vieles hat sich geändert.
Nein, das war nicht mehr mein …. Es schien mir eher gewöhnlich wie überall auf der Welt.
Die Menschen waren mir fremd geworden, gestört möchte ich fast sagen.
Sie simsen und zappen sich durch den Tag, reihen X-Beliebiges aneinander und mir stellen sich bizarre Zusammenhänge dar, die in ihrer Unvorhersehbarkeit jedes pädagogische Konzept a priori zunichte machen.
Haben wir uns früher im Einhalten von Regeln geübt, scheinen sie heute wie gemacht, umgangen und übertreten zu werden.
Abgesehen davon fehlt es an Pädagogen mit Charisma.
Kein Blitz durchzuckt den Himmel mehr, kein Donner grollt. Heute ist Gesprächsbreitschaft das Signal. Überall, zu jeder Stunde. Es wimmelt von „Persönlichen Gesprächen“, den Pgs.
Mich erinnert das an give-aways. Bedeutungsloses, handelsübliches Falschgeld, mit dem Freiraum erkauft wird.
Manches ähnelt wahrlich den Beschwörungsritualen unserer Geistheiler.
Nur sind die Patienten hier dort eher Kunden im Park.
Wer zahlt, bestimmt, wie und wo zu befrieden ist.
Ein kleines Treffen an der Cocktailbar hatte man uns arrangiert.
Jawohl, es spricht sich leichter mit dem Alk im Nacken, aber um Himmels Willen nicht im Pulk. Und Brut mit Label ist nun wirklich nicht mein Ding.
Ein Wirrwarr von Gelacktem, Piercings und Gefönten, Jugendamt und Stipendiaten, Iberos, Afros, blauem Blut.
Da sucht man den Schuldigen vergeblich.
Was soll aus meinem geliebten... bloss werden?
Einigkeit und Recht und Freiheit müssen doch verbindliche Grundwerte bleiben.
Wie aber, wenn schon dem Nachbarn der Ruf nach Égalitée, Libertée und Fraternitée besser gefällt?
Die Tradition, der ich mich verpflichtet fühle, kann keine Blüten tragen, wenn das ständige Kommen und Gehen von Schülern und Lehrern im Geäst sägt.

Ich vertraue Dir eine gewisse Trauer an und frage mich, ob unsere Schuld darin besteht, dass wir nichts als älter geworden sind.

Herzlichst
Dein KM.

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