Zuhause

Painting ©reated by Humberto de Jesús Viñas García

Als sie das schief in den Angeln hängende Törchen zum Schulpark hinter sich geschlossen hatte und die abgewetzten Stufen der Sandsteintreppe hinauf ging, knipste Mira ihre Taschenlampe an und folgte dem fahlblauen Lichtkegel, der im Rhythmus ihrer Schritte über den aufgeweichten Boden tanzte, stieg mit ihm über Schatten, abgerissene Zweige und morsche Äste, lief entlang einer entwurzelten Fichte, stapfte die regenschwere Wiese zum Haupthaus hinauf und erreichte die Anhöhe, wo unter dem roten Schotter ein kaum noch wahrnehmbarer Kreis aus handgrossen Sandsteinen den Ort der täglichen Mittagsversammlung markierte.

Sie sah die hell erleuchteten Fenster des Speisesaals und die Lichter der Schülerzimmer, die mal hier mal dort wie Kerzen an einem Baum verlöschten.
Gleich würden die jungen Menschen zum Frühstück eilen und die fröhlich ausgeschlafenen unter ihnen würden ihren Morgengruß hastend im Vorübergehen oder mit einer inne haltenden Geste erwidern.
Miras Arbeitsplatz, das Krankenrevier, lag fünf Minuten Fußweg vom Haupthaus am anderen Ende des Internatsgeländes. Erkrankte und verletzte Schüler suchten sie dort seit zwanzig Jahren auf, überließen ihr die wund geschlagenen Knie und geschwollenen Knöchel, die drückenden Bäuche und kratzenden Hälse zur Heilung, baten Jahr um Jahr, Sommers wie Winters drängelnd und dringend um Befreiung vom Sport, fragten um Rat oder schütteten ihr Herz aus.
Zu Beginn eines jeden neuen Schuljahres wusste sie, das Rad würde sich erneut drehen. Einige der neuen Schüler würden sich zur Genesung auf eigenen Wunsch oder ihre Empfehlung hin in eines der Krankenbetten zurückziehen, andere wiederum die vertrautere Umgebung des eigenen Zimmers vorziehen. Und einhellig würden sie das Essen an ihrem liebevoll gedeckten Tisch loben.
"Es wird wieder besser schmecken", hatte sie ihrer Freundin gegenüber lachend geäußert, "als das Essen im Speisesaal - obwohl es von der Küche geliefert wird - und die Tischgespräche werden lustig und entspannend sein."

Im Oberhaus, so wurde das Gebäude bald siebzig Jahre genannt, schob die Putzfrau ihren Wischeimer aus dem Klassenraum der 9 zwei.
"Na, haben Sie Ihren Schlüssel dabei?" fragte sie Mira, die in ihren Taschen kramte.
"Ja!" bedankte Mira sich und steckte den allmorgendlich ersten Schlüssel in sein Schloss und drehte links-rechts, darauf folgte der zum Sicherheitsschloss vom Medikamentenschrank einmal links-rechts, jetzt die beiden Karteikästen links-rechts und noch einmal dasselbe und schließlich die linken Schreibtischladen.
Sie warf den Schlüsselbund auf das Fensterbrett, zog ihre Jacke aus, öffnete alle Fenster, ordnete die frisch gelieferte Wäsche ein, leerte die Spülmaschine, schloss die Fenster, schaltete das Radio ein und überfolg den Tageskalender.

Sara suchte sie in der ersten Pause auf.
Blass und traurig stand die junge Spanierin mit leicht gebeugtem Oberörper vor ihr und hielt die gekreuzten Hände schützend vor den Bauch.
"Bitte, haben Sie eine Schmerztablette?" bat sie.
"Du hast starke Schmerzen?" fragte Mira.
"Ja, mir ist schlecht", antwortete Sara und die Hände über ihrem Bauch deuteten einen Kreis an.
"Ist das in Ordnung, wenn ich deine Temperatur überprüfe und mir deinen Bauch anschaue, bevor ich dir etwas gebe?" fragte Mira.
Sara stimmte zu. Mira erklärte ihr, was sie mit den einzelnen Handgriffen überprüfte und dass es aufgrund der Untersuchung keinen Anhalt zur Beunruhigung gab.
"Was hältst du davon, wenn du dich eine Stunde hinlegst?"schlug sie ihr vor. "Ich mache dir einen Kamillentee. Magst du den?"
"Manzanilla trinke ich zuhause auch", sagte sie.
"Dann ruhst du dich ein bisschen aus und wir warten ab, wie es dir danach geht?"
Mira zeigte Sara das Zimmer und das Bad und legte ihr noch eine zweite Decke über als sie ihr den Tee brachte.

"Was wirst du an diesem Wochenende machen?" fragte Mira.
"Ich fahre mit in das Skilager", antwortete Sara. "Können sie mir bitte die Kopie von meinem Versicherungsschein mitgeben? Mein Portemonnaie ist gestohlen worden und da waren meine Ausweispapiere drin. Ich habe schon mit meinen Eltern gesprochen und es dauert, bis ich meinen neuen Ausweis habe."
Trotz allen Nachdenkens hatte Sara keinen Anhaltspunkt dafür gefunden, wann und wo ihr Eigentum abhanden gekommen war.
"Ich kann mich nicht erinnern", sagte sie und sah für einen kurzen Augenblick so verloren aus wie ihr Portemonniae.
"Es macht dich traurig?"
Sie zuckte mit den Schultern.
"War neben den Ausweisen noch etwas in dem Portemonnaie?"
"Nicht viel. Zehn Euro. Aber das ist nicht so schlimm."
"Und was ist dann schlimm?" fragte Mira.
"Schlimm ist, dass ich mein Kreuz verloren habe. Meine Kette ist gerissen. Und mein Kreuz ist weg!" Beinahe unauffällig rollte sie sich während des Sprechens zusammen und zog die Decke höher. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

"Und dass du jetzt kein Kreuz hast, ist schlimm für dich?" fragte Mira.
Sara nickte und drückte das Gesicht ins Kissen.
"Dafür gibt es eine Lösung", sagte Mira und nestelte an der Kette unter ihrem Rollkragen. "Hier, nimm! Das Kreuz ist für dich. Und die Kette auch."
Noch während Mira weiter sprach, hatte Sara sich aufgesetzt und ihre schweren Haare hoch genommen. Als Mira ihr die Kette um den Hals legte, lächelte sie Mira ganz kurz an und versteckte die Kette eilig unter ihrem dicken Schal und kopfte mit der flachen Hand auf die Brust.
"Ich muss dir aber noch etwas dazu sagen" bat Mira und redete ohne Unterbrechung weiter. "Du kennst den Ausdruck Jeder muss sein Kreuz tragen? Meines trage ich weiter. Aber dieses Kreuz hier hat mich über viele Jahre bis in dieses Zimmer zu dir begleitet. Ich gebe es dir. Und jetzt trägst du es. Es ist deins."
Sara schaute Mira aufmerksam an als sie sich erhob und am geöffneten Fenster tief und langsam atmete.
"Möchtest du noch einen Tee?" fragte Mira.
"Danke, nein."
"Fühlst du dich besser?" fragte Mira.
Sara nickte.
"Gut. Dann lasse ich dich jetzt schlafen und du stehst auf, wann immer du willst. Ist das in Ordnung?"
"Ja", sagte Sara.
Leise fiel die Tür ins Schloss.

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