Aus dem Herzen Deutschlands

Erzählungen und Textcollagen

von        1997

 

Painting ©reated by Knut Kargel


Zu diesem Buch
Sprache und Schreiben sind mir Wegbegleiter seit jeher. Sprache als eines unserer Werk-zeuge, mit denen wir töten oder Türen öffnen. Schreiben als eine besondere Form der Annäherung an das, was Realität genannt wird.
Als ich vor Jahren erlebte, wie die Muttersprache in mir erstarb, machte ich mich auf in den Süden. Wie ein greises Kind habe ich in der neuen Sprache, ihrem Klang und ihren Bildern die Welt neu entdeckt. Und mich in ihr.
Ich konnte wieder schreiben. Jetzt in spanischer Sprache.
Ángel Caffarena in Málaga hat in seiner Reihe „Cuadernos de David“ meinen ersten Gedichtband „Rosas y Azafrán“ veröffentlicht.
Jetzt lebe und arbeite ich seit einigen Jahren im Landschulheim am Solling. Dort habe ich diese Erzählungen geschrieben. Vor allem Johanna, Dorota, Svenja, Nora und mein Kollege Reinhard Pietsch haben mich immer wieder gefragt, wann ich veröffentliche.
Das Buch liegt nun vor.
A. W.


Miss Africa

für V.P.O.

Foto ©reated by Helena Afonso

Sie sitzt am Strand.
Über ihr ein strahlender Himmel, der fast schon kitschig anmutet. In der Ferne, weiß gezackt in das Blau hinein, die Sierra Nevada. Sogar über Ostern ein beliebtes Skigebiet. Freunde von ihr verbringen Silvester dort.
Sie fährt kein Ski. Über Silvester bleibt sie im Dorf. Und wenn die Kirchturmuhr Mitternacht schlägt, isst sie, wie alle anderen, zwölf Weintrauben. Die spendiert der Bürgermeister.
Zunächst hat sie das nicht gewusst. Aber jetzt weiß sie es und nimmt keine mehr mit. Mutet seltsam an, wenn jemand mit einem Sträußchen Obst in der Hand durch die Nacht spaziert, zumal es nicht notwendig ist, denn die Tische, die wacklig im Karree um den Platz an der Kirche stehen, sind vollgepackt mit Weintrauben und Sekt.
Der gehört dazu. Nicht die beste Marke, aber immerhin. Außerdem trinkt kaum jemand davon. Das meiste wird in der Gegend herumgespritzt. Von oben bis unten wird man nass und riecht erbärmlich.
Gott sei Dank weiß sie das jetzt auch und sieht zu, dass sie einen günstigen Platz findet oder sich rechtzeitig aus dem Staub macht. Meistens geht sie danach Freunde besuchen, von denen sie weiß, dass sie den Abend zu Hause verbringen und wünscht ihnen ein gutes Neues Jahr.
Manche hat sie vielleicht sogar länger nicht gesehen und die wundern sich gebührlich, wenn sie plötzlich auf der Schwelle steht. Man lacht viel und herzlich, sitzt stundenlang und erzählt vom Sommer, erinnert sich der Toten und tauscht kleinere Familiengeheimnisse aus. Ob jemand zu ihr kommt, weiß sie nicht. Sie ist ja nicht zu Hause.
Aber jetzt ist es Herbst.
Sie sitzt am Strand.
„Please, Miss, is that Gibraltar over there?“
Eine zittrige, dünne Stimme und noch dünnere Beine in schlabberigen, gelben Bermudashorts scheinen auf Antwort zu warten.
Ich grabe meine Zehen aus dem heißen Sand.
Ein dunkler, leicht angewinkelter Arm senkt sich auf Augenhöhe und zeichnet mit knöchrigem Zeigefinger den Horizont nach.
„Gibraltar?“
„That´s Africa, I´m afraid. Gibraltar´s over there.“
„Africa!“ höre ich die Stimme leise und voller Freude. „ I made it! I knew I would!“
Ich bin verwirrt. Ich erinnere diesen Tonfall. Die leise Bestimmtheit, das Ziel vor Augen habend, in freudiger Erwartung des unabänderlichen Sieges.
Grau aus dem Nichts fällt in mein Bewusstsein. Mich friert plötzlich. Mir ist nicht gut. Warum ist mir plötzlich so schlecht? Diese Luft macht mich ganz benommen. Ich zittere am ganzen Leib und mir ist überhaupt nicht gut. Vor den dünnen Beinen übergebe ich mich.
„You don´t like Africa, do you?“ scherzt der Fremde neben mir. Mit einer Hand meinen Kopf haltend, gießt er mit der anderen Mineralwasser auf ein Tuch.
„I love Africa. But Africa doesn´t mind.“
Mir ist immer noch kalt. Das feuchte Tuch im Nacken, sitze ich im Liegestuhl unter dem Sonnenschirm.
Neben mir der Fremde.
Mit sicheren Bewegungen fühlt er meinen Puls und schaut mir in die Augen. Ich sehe ihn an.
„No temperature, Miss Africa. Are you pregnant?“
„I was. Years ago.“
„You´ll get it right, Miss Africa. Don´t worry!“ sagt der Fremde.
„I´m sorry, tut mir leid, Entschuldigung“, kann ich noch sagen und drehe mich im Liegestuhl zur Seite.
„Haben Sie gut geschlafen?“ höre ich beim Aufwachen.
Der Fremde lächelt. Er sitzt mir gegenüber im Sand.
Die Sonne wirft lange Schatten. Farbenmüde und träge schlingert das Meer zwischen den Kontinenten hin und her.
„Können Sie sich vorstellen, dass dieses Meer sich auf das Ufer wirft und die Strandpromenade zerbirst gerade so, als hätte es sie nie gegeben? Bis zur zweiten Etage schlugen die Wellen hoch und das Getöse war so stark, dass man sich nicht einmal mehr schreiend verständigen konnte. Der Wind trieb die Gischt über die Gärten jenseits der Straße. Die Küsse schmeckten salzig. Und der solo in den Straßencafés.“
„Ich bin gleich zurück, Miss Africa“, sagt der Fremde, steht auf und stakst davon.
Am Ufer schwemmen Kinder den Sand aus großen grünen Algenbüscheln. Das kleinste von ihnen soll sich an den Saum aus angeschwemmten Muscheln und all den bizarren Dingen legen, die das Meer ausspuckt. Mit den Algenbüscheln bedecken es die anderen Kinder so geschickt, dass nur die Augen aus dem Grün lugen.
Jetzt warten alle.
Zwei Spaziergängerinnen nähern sich lachend uns gestikulierend.
Dort, wo das Kind unter den feuchten Algen liegt, bleiben sie x-beinig stehen. Machten sie jetzt einen falschen Schritt in die eine oder andere Richtung, würden sie den Jungen verletzen. Jählings dreht sich die dickere Frau zur Seite, läuft tolpatschig auf das Ufer zu, scheint ihr Vorhaben einen Augenblick zu verzögern und begibt sich dann doch ins Wasser.
Bis zu den Knien reicht es ihr jetzt. Sie beugt ihren Rumpf weit vor, zwingt ihren kugeligen Bauch und die schweren Brüste zwischen Kinn und Oberschenkel, wobei sie, die hohlen Hände hin und her pendelnd leicht in die Knie geht und hastig kühlende Tropfen aus der Wasseroberfläche in die Luft wirbelt.
Die Abkühlung scheint ihr kein Wohlbefinden zu verschaffen, so hektisch benetzt sie mit knapp bemessenen Bewegungen die kurzen Arme und den fleischigen Nacken unter dem öligen Haarknoten, zupft das enge Badekleid zurecht, streckt den Bauch wieder vor, streicht und tätschelt ihn ausgiebig und folgt ihrer Begleiterin, die sich im Gehen ein grünes Algenbüschel von den Zehen streift.
Lautlos springt das Kind hoch, läuft an den kreischenden Spielgefährten vorbei ins Wasser und taucht unter einem Kranz von Algen weg.
Das Relief von Afrika wölbt sich am Horizont.
Algenbehangen kippt das Meer nach hinten. Der Fremde kommt zurück.
„Trinken Sie das. Es wird Ihnen guttun. Hausmittel des Südens.“
Ausgepresste Zitrone und ein solo.
„Vicente hat mir davon erzählt. Er kennt den Süden.“
„Wer ist Vicente?“ fragt der Fremde.
„Er hat eine wunderschöne Frauenskulptur. Er zeigte sie mir einige Tage oder waren es Wochen, nachdem wir lange bei einander gelegen hatten. Seine Augen glänzten wie das dunkelrote Holz, über das er sanft mit den Händen glitt.
Diese Lautlosigkeit hat mich berührt. Das Holz schimmerte ganz seidig. Ich nahm etwas wahr, konnte es aber nicht fassen oder begreifen und fand keine Worte.“
„Worte haben ihre eigene Magie. Mit der Zeit werden sie groß. Wie Kinder.“
„Mir fehlen ständig Worte.“
„Das ist gut. Es ist ein langer Weg“, antwortet er lachend.
„Ich kenne diesen Weg. Nichts als Flickwerk. Überall sehe ich die Fresken. Die schönsten Farben verfallen in den Klauen weißer Kalkflecken in Totenstarre. Wie soll man diese Bilder je wieder zum Leben erwecken?“
„Keine dunklen weißen Flecken?“ fragt er spöttisch.
Wir lachen.
„Ich habe mir vorgestellt, in einem weißen Raum gefangen zu sein. Nichts als Weiß und der Raum. Von irgendwo ein Licht. Und ich habe mich gefragt, wie lange ich es in diesem Raum aushalten könnte, bevor ich verrückt würde. Sollte es jemals geschehen, habe ich mir vorgenommen, mich auf diesen Raum und seine Zeit einzulassen. Es kann Sommer und Winter werden, und ich werde das Weiß in allen Farben sehen. Das graue Weiß des Morgens, vielleicht über Mittag hin gleißender werdend, und, falls das Licht von Süden einfällt, in Goldstufen den Abend ankündigend. Die Schatten der winzigsten Unebenheiten werden mir Höhen und Tiefen anzeigen. Vielleicht sind es auch violette, taubenblaue oder schrillweiße Töne, die sich in allen Winkeln des Zimmers wie Blütenkelche öffnen und schließen.“
„Miss Africa, Sie sollten sich noch ein bisschen ausruhen, sonst müssen Sie mir wieder vor die Füße kotzen“, meint er freundlich und bestimmt.
„Ich weiß auch nicht, warum ich so viel rede. Aber wenn ich nicht rede, kommt das Unbehagen wieder“, antworte ich ihm.
„Miss Africa. Warum nenne ich Sie so?“ fragt er besonnen und schaut mir in die Augen.
„Ich empfinde es“, antworte ich, „aber es würde lächerlich klingen. Wie eine Rechtfertigung oder Erklärung. Ich schäme mich. - Also gut, ich sehe das Bild von einem lippenstiftverschmierten Mund“, sage ich schnell.
„Rot. Das ist gut, Miss Africa. Rot ist ihre Farbe“, lacht er. „Denken Sie nicht in Weiß! In meiner Heimat ist das die Farbe der Trauer.“
„Ich weiß“, flüstere ich.
Wind ist aufgekommen. Die Kinder spielen nicht mehr am Ufer. Fahl steht die Sonne tief im Westen. Dunkelgrün und wie mit tausend Nadeln gespickt windet sich das Meer unter dem herannahenden Sturm.
„Es ist besser, Sie gehen jetzt“, sagt der Fremde, „Sie sind noch nicht stark genug für das Unwetter.“ Er reicht mir die Hand zum Abschied.
Kurz vor der Uferpromenade drehe ich mich noch einmal um.
Blitze brechen aus den Wolken und im Gegenlicht bewegt sich eine Silhouette wie ein tanzender silberner Kranich, der mit mächtigen Schritten Kraft für einen großen Flug sammelt.
„Red, Miss Africa. Don´t forget about the red!“ ruft er ihr zu und mit weit geöffneten Schwingen trägt ihn der Wind.

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